„Geteiltes Leben – wie viel DDR steckt nach 35 Jahren Einheit noch in mir?“ Beitrag zur Blogparade …

… von Sylvia Tornau. Ein spannender Schreibanlass, dem ich mich gerne hingebe – obwohl ich doch im Moment neben künstlerischen und persönlichen Herausforderungen grade mal so meinen Instagram-Kanal bespielt kriege und gar keine Zeit für so ne Extras habe …. Egal! Jetzt!

Sylvia Tornau ist systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Eine Ostpflanze. Außerdem eine, die immer mal wieder Frauen bewegt und sich von ihnen bewegen lässt. Das Thema korrespondiert in schönster Weise mit meinem aktuellen intergenerationalen Projekt „35 x 89“ (zum 35jährigen Jubiläum des 89er Herbstes in diesem Jahr) – dem Nachfolger von „Zwischenwelten“ mit der Songpoetin und Klangexperimentatorin Maria Schüritz.

Nach meiner Vergangenheit oder den Gründen für mein (nicht unerschütterliches, aber doch zuverlässig immer wiederkehrendes) Selbstvertrauen befragt, gebe ich gerne zu Protokoll: Ich habe einen Staat überlebt. Dazu zwei Währungsreformen, eine internationale Finanzkrise, eine gebrochene Hand und die umfassenden Beschränkungen im Gefolge der Coronapandemie. Am Schöneberger Küchentisch haben wir vor Jahren schon beschlossen, dass ich meiner westsozialisierten Künstlerfreundin die Erfahrung einer alles umwälzenden Veränderung voraushabe. Die Erfahrung, an dieser Umwälzung fühlend und handelnd beteiligt zu sein – also nicht nur umgewälzt zu werden. Sicher – die visionäre Kraft vieler Menschen ist gnadenlos ausgenutzt worden und sicher gab es auch ein nur sehr kurz geöffnetes weltpolitisches Möglichkeitsfenster. Aber selbst dann, wenn ich die eigene Handlungsfähigkeit in der Umwälzung als eingeschränkt erlebt hätte/ erlebe (was ich nicht tue), bliebe doch eins: Egal wie fest, starr, stur und ausweglos eine Situation auch immer sein mag – möglicherweise ändert sie sich in der nächsten Minute grundlegend. Obwohl ich ab Anfang der 80er Jahre zunehmend Teil dieser Veränderung und im Herbst 89 folgerichtig künstlerisch/ politische Aktivistin war, hat sich für mich nach dem „Großen Andersrum“ (danke Duo Sonnenschirm!) nicht viel geändert. Freiberufliche Künstlerinnen und Künstler mussten in der DDR zunehmend unter quasi marktwirtschaftlichen Bedingungen („Einzelkämpfer“) arbeiten – allerdings durften wir diese Tatsache nicht benennen. Heute ist es öfter mal umgekehrt – die Tatsache, dass im Kunstbetrieb die meiste Zeit Solidarität, Vernetzung, Empfehlung und Unterstützung eine Rolle spielen, wird gerne unter den Tisch geschoben. Da lungert sie dann so herum. Unterm Tisch nebenan prügeln sich das Konkurrenzgebot mit der Basisdemokratie, dem Wunsch nach persönlicher Sichtbarkeit und den hierarchischen Verhältnissen im Theater/ Konzerthaus/ Orchesterbetrieb – damals wie heute scharf beobachtet von individueller Eifersucht, Neid, Animositäten, Existenzsorgen und schlichtem Desinteresse. Ich verdanke meiner Ostsozialisation eine für heutige Verhältnisse überbordende Gelassenheit im Umgang mit widrigen Umständen und schwierigen Menschen. Das hat viele Vorteile und einige Nachteile, die ich jedoch nicht als schwerwiegend empfinde. Auf Tour, auch außerhalb Deutschlands oder Europas, ist die Erfahrung des Unterwegsseins in der DDR äußerst hilfreich. Logistische Probleme, klapprige Technik, unpassierbare Straßen, Schmutz in allen Variationen und div. Formen von Tourkoller sind Herausforderungen, die es mit Würde und Eleganz zu meistern gilt. Dass Herausforderungen generell unsere Widerstandskräfte stärken, ist meinem Empfinden nach ein im Deutschland von HierHeuteJetzt nicht aktiviertes bzw. fast ausgestorbenes Wissen. Das gemeinsame Meistern von Herausforderungen stärkt unseren Gemeinschaftssinn und unsere Kommunikationsfähigkeit. Wenn ich mich umschaue und zuhöre, habe ich allerdings manchmal das Gefühl, wir warten alle mehr oder weniger auf das schöne, sorgenfreie, stressarme, unabhängige und sonnige Leben, was uns angeblich vom Universum oder sonstwem versprochen wurde. Zusätzlich wird in Ostdeutschland immer noch auf die „blühenden Landschaften“ gewartet. Dass irgendein blaues Wunder uns der Einlösung des Versprechens näherbringen wird, darf getrost bezweifelt werden. . .

Eine grundlegend abwartende Haltung, ev. auch Misstrauen (hier: nicht vorab vertrauen, sondern den Beweis für Vertrauenswürdigkeit abwarten) gegenüber einer Regierung, ihren Unterstützern und Erzwingungsstäben erscheint mir als weiteres Erbe meiner Ostsozialisation. . . Sich unterschiedlich medial informieren, sowohl über die eigene als auch die Propaganda des „Gegners“ (damals „der Klassenfeind“). Lücken suchen, finden und beherzt hineinspringen. Zwischen den Zeilen lesen und sich in der Kunst üben, zwischen den Zeilen zu schreiben, damit auch andere dort etwas lesen können. (Über)Lebensstrategien erproben, teilen und weiterentwickeln. Grade/ aufrecht stehenbleiben. Angst haben und trotzdem denken, fühlen und handeln. Einsamkeit aushalten. Nicht sofort weinend den Raum verlassen, wenn mir mal niemand zuhört und ich anscheinend nirgendwo dazugehöre. Mir und meinem Lebensweg glauben und vertrauen, auch wenn mir grade niemand folgt, mich beklatscht und toll findet. Wenn ich zurückschaue, bin ich immer wieder erstaunt, wieviel individuelles Leben in der DDR möglich war – in diesem angeblich so kollektivistischen Klops, in dem alle im Gleichschritt durch den Sumpf des Mangels marschierten, den persönlichen Spitzel immer im Gepäck. Es gab viel richtiges Leben im falschen.

Ja, ich habe (auch) Glück gehabt. Ja, ich habe Glück. Glückliche Zufälle, glückliche Umstände, glückliche Begegnungen, glückliche Anfänge und glückliche Enden. Ja. Und ich arbeite schon immer (na okay, sagen wir mal seit ich 18 bin) so, wie an den Rändern oder außerhalb Europas der Musikerberuf verstanden wird. Reisen (auch nach innen), musikalische und soziale Impulse seismographisch aufnehmen, verarbeiten und weitergeben, den Menschen zuhören (allen!), Nachrichten und Stimmungen hin- und hertragen, an größere Zusammenhänge erinnern, über das kleine Glück sprechen, Hoffnung haben und verbreiten. Brücken bauen, Spannungen ausgleichen. Auch ohnmächtiger Zorn und blinde Wut sind da. Integrativ denken, fühlen und handeln. Öffentliche künstlerische Arbeit als Verbindungsrituale gestalten. Dankbarkeit/ Berührbarkeit/ Hingabe herausfordern, zulassen und stärken. Mutig fragen und mutig antworten. Sich selbst und anderen (künstlerischen) Raum geben. Dem Raum Zeit geben, sich auszudehnen oder zu bündeln und das Unerwartete/ Ungeformte einladen, sich zu manifestieren, sich eine Form zu geben. Niemandem seine/ihre Verwirrung ausreden wollen, auch mir nicht – und akzeptieren, dass es trotzdem manchmal geschieht.

Bis 1990 habe ich das mehr und mehr einfach gemacht, danach konnte ich es mehr und mehr auch erklären. Und nein, das gelingt mir alles nicht immer. Aber immer öfter.

Natürlich spielt es eine Rolle, dass ich in einem Land geboren wurde, in dem ich nicht sterben werde. Ich fühle mich immer noch seltsam als Emigrantin – eingewandert in ein Land, was ich nie verlassen habe. Ausgewandert aus einem Land, was rein äußerlich ja immer noch existiert – in mir und um mich herum. In dem ich immer noch lebe. Das ist eine äußerst merkwürdige Identität. Ich verstehe zutiefst, dass es Menschen gab und gibt, die nach dem „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ damit Probleme hatten und haben. Das können wir weder leugnen noch wegerklären. Auch wenn ich persönlich eine nationale Identität nicht so wichtig finde. Aber! Und! Mein Leben gehört zu meinem Leben. Ganz und gar. Mein Geburtsort, mein Kinderwald, meine Schule und der Sportplatz, gut ausgeleuchtete Bühnen und finstere Ecken, jeder Zweifel und jede Gewissheit, jede Suche und jede Sackgasse. Der schmerzhafte, tödliche Riss durch das Deutschland der Nachkriegszeit. Der kalte Krieg, die atomare Aufrüstung und die Durchmilitarisierung der Gesellschaft. Selbstwirksamkeit und Selbstehrlichkeit – Vergeblichkeit und Lüge. Menschen – die Musikerfamilie in der ich aufwuchs und lernte, Gefährtinnen und Freundinnen und ein großer Kreis, in dem meine Arbeit, meine Musik, meine Gedanken und Bewegungen wahrgenommen und begleitet wurden. Gastfreundschaft, Gesprächsangebote und Unterstützung von völlig Fremden. Menschen, die ihre Seele und andere Menschen verkauften und verrieten, um ein paar alltägliche Vorteile, ein bisschen klägliche Macht oder schlicht Bestätigung/ Aufgehobensein zu erlangen.

Was aktuell zu meinem Leben gehört, erfährst du in meinen anderen Blogartikeln. Heute mal keine Fotos. Danke für’s Lesen!

#geteiltesleben

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